Ein guter Start ins Leben – mit einer schmerzhaften Wurzel
Herr I. wurde als kleines Kind zur Adoption freigegeben. Über seine Herkunft wusste er wenig, doch eines stand fest: Die leibliche Mutter wollte ihn nicht behalten. Dieser Satz blieb – nicht als bewusste Erinnerung, sondern als tiefer Abdruck im Nervensystem.
Seine Adoptiveltern waren liebevoll, präsent, zugewandt. Er bekam Halt, Förderung, Bildung, Sicherheit und Zuwendung. Und doch blieb eine innere Stimme, die sagte: „Irgendwann lässt dich jemand wieder los.“
Diese frühe, körperlich gespeicherte Erfahrung – „Ich bin nicht gewollt“ – wurde zu einer leisen Grundspannung, die sich über sein gesamtes späteres Leben legte, auch wenn er sie nicht klar benennen konnte.
Die Wiederholung der ersten Wunde
Als Erwachsener führte Herr I. äußerlich ein erfolgreiches Leben. Er hatte eine Ausbildung abgeschlossen, war beruflich stabil und wurde von seinen Mitmenschen geschätzt. Doch in Beziehungen zeigte sich ein Muster:
- Am Anfang erlebten die Partnerinnen ihn als zugewandt, aufmerksam und verlässlich.
- Sobald Nähe entstand, wurde seine Angst wach.
- Er begann zu klammern, zu kontrollieren, ständig Bestätigungen zu suchen.
Für die Partnerinnen fühlte sich das einengend an. Manche erlebten es als misstrauisch, manche als zu fordernd. Und schließlich geschah genau das, wovor er sich am meisten fürchtete: Die Frauen gingen.
Nach jeder Trennung suchte er schnell eine neue Beziehung, ohne das Alte zu verarbeiten. Das Muster begann immer wieder von vorne.
Der Wendepunkt: Die Frage „Warum passiert mir das?“
Als Herr I. in meine Praxis kam, war er verzweifelt und erschöpft. Er fragte: „Warum verlässt mich jede Frau?“
Zunächst war ihm nicht bewusst, wie stark seine Angst sein Verhalten steuerte. Wir arbeiteten langsam, sorgfältig, mit viel Achtsamkeit. Es ging darum, die emotionale Wurzel zu verstehen, die frühe Trennungserfahrung zu erkennen und das alte Gefühl „Ich bin nicht genug“ von der Gegenwart zu unterscheiden.
Auch wenn er sich bewusst nicht erinnerte: Der Körper erinnerte sich. Das Nervensystem erinnerte sich. Die Angst erinnerte sich.
Vom Kind im Schatten zur erwachsenen Haltung
Ein wichtiger Teil der Therapie war die Unterscheidung zwischen damals und heute:
- Damals war er ein kleines Kind, abhängig.
- Heute ist er ein erwachsener Mann mit Fähigkeiten.
- Damals konnte er nichts tun.
- Heute kann er Entscheidungen treffen.
Er lernte, sich selbst anzunehmen, bevor er nach Bestätigung sucht. Nähe basiert nicht auf Kontrolle, sondern auf Vertrauen und innerer Stabilität.
Besonders wichtig wurde für ihn der Leitsatz: „Das Restrisiko bleibt – aber du hast gelernt, es zu überleben.“
Ein neues Beziehungserleben
Ich empfahl ihm, sich nach der letzten Trennung Zeit zu nehmen – nicht aus Angst, sondern aus Fürsorge. Zum ersten Mal suchte er nicht sofort eine neue Beziehung.
Nach zwei Jahren beendete er die Therapie. Sieben Jahre später schrieb er mir eine E-Mail: Heute lebt er in einer stabilen Partnerschaft, inzwischen verheiratet, zufrieden und verbunden.
Er schildert: „Ich gebe ihr Freiheit. Ich halte mich zurück, wenn die Angst hochkommt. Ich kümmere mich um mein Leben. Und sie bleibt.“
Was dieser Fall zeigt
Eine frühe Trennungserfahrung verschwindet nicht vollständig, aber sie muss das Leben nicht bestimmen.
Psychotherapeutisch lässt sich lernen:
- zwischen früher und aktueller Realität zu unterscheiden,
- Muster zu erkennen,
- Angst nicht als Wahrheit zu nehmen,
- Beziehungen aus Selbstwert statt aus Kontrolle zu gestalten.
Wer sich selbst Halt geben kann, hat weniger Angst, verlassen zu werden.