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Die Bedeutung der Angst – und wann sie uns im Leben einschränkt

Angst ist kein Fehler unseres Systems, sondern ein lebenswichtiges Signal. Doch wenn sie zu stark wird, beginnt sie, unser Denken und Handeln zu beherrschen. Ein existenzanalytischer Blick auf ein Gefühl, das uns schützt – und uns zugleich gefangen nehmen kann.

Angst als uraltes Schutzsystem

Angst ist eines der ältesten und grundlegendsten Gefühle des Menschen. Ohne sie gäbe es uns als Spezies wahrscheinlich nicht mehr. Sie ist der Wächter unseres Lebens, ein Alarmsystem, das uns schützt und uns dazu bringt, Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Schon unsere Vorfahren hätten ohne Angst keine Fluchtinstinkte entwickelt, keine Vorsicht gelernt und keine Strategien gefunden, um zu überleben.

Angst ist daher kein Feind, sondern ein Begleiter, der uns immer wieder daran erinnert, wach und aufmerksam zu bleiben.

Wenn Angst zur Belastung wird

Doch Angst hat zwei Gesichter. Solange sie uns warnt, erfüllt sie ihren Sinn. Aber dort, wo sie beginnt, unseren Alltag einzuschränken, verliert sie ihre Schutzfunktion und wird zur Last. Wenn wir über längere Zeit mit einem Gefühl der inneren Enge leben, wenn unser Denken nur noch um bestimmte Themen kreist oder wir uns in endlosen Grübelschleifen verlieren, dann ist die Angst nicht mehr ein Signal – sondern ein Zustand geworden. Sie lähmt, verengt den Blick, macht misstrauisch gegenüber der Zukunft und raubt uns die innere Beweglichkeit.

Verdrängte Angst und ihre Folgen

Viele Menschen versuchen, dieses Gefühl zu vermeiden. Angst gilt in unserer Gesellschaft oft als Schwäche, als etwas, das man beherrschen oder unterdrücken sollte. Doch in Wahrheit verlieren wir dadurch den Zugang zu einem zentralen Teil unserer Lebendigkeit. Wenn wir der Angst ausweichen, übersehen wir häufig die Signale, die sie uns senden will. So kann es passieren, dass wir genau jene Probleme übersehen, die wir rechtzeitig hätten erkennen können.

Ich erinnere mich an eine Klientin, die tief in sich spürte, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmte. Sie hatte über Monate diffuse Symptome, Müdigkeit und Schmerzen. Doch die Angst vor einer möglichen Diagnose war so groß, dass sie keine Ärztin aufsuchte. Sie schob es auf Stress, auf Zufall, auf alles Mögliche – nur nicht auf die Möglichkeit, dass etwas Ernstes dahinterstecken könnte.

Erst als die Beschwerden zu stark wurden, ging sie zum Arzt – da war es zu spät.

Diese Geschichte zeigt, wie mächtig Angst sein kann, wenn wir sie nicht ernst nehmen, sondern verdrängen. Hätten wir den Mut, hinzuschauen, könnte Angst uns manchmal sogar retten.

Wie Angst unser Verhalten prägt

Denn Angst führt fast immer zu Vermeidung: Wir schieben Dinge auf, meiden Gespräche, vermeiden Nähe, riskieren keine Veränderung. Je länger das anhält, desto stärker wird die Angst selbst. Sie verfestigt sich, sucht sich neue Themen, wandert von einem Lebensbereich zum nächsten. So entsteht die chronische Angst – ein Zustand, in dem das Gefühl sich verselbständigt und uns das Vertrauen in unsere eigene Kraft nimmt.

Der existenzanalytische Blick auf die Angst

Es gibt unzählige Formen von Angst im Alltag: Prüfungsangst, Angst vor dem Zahnarzt, Angst, den Partner zu verlieren, Angst vor dem Versagen, vor Krankheit, vor finanzieller Unsicherheit, vor dem Alter, vor Ablehnung oder davor, nicht zu genügen. Jede dieser Ängste hat ihren Ursprung in einem zutiefst menschlichen Bedürfnis – dem Wunsch nach Sicherheit, Liebe, Kontrolle oder Anerkennung.

In der Therapie geht es nicht darum, die Angst wegzumachen, sondern sie zu verstehen. Angst will uns etwas sagen:

„Achte auf dich. Schau hin.“

In der existenzanalytischen Arbeit versuchen wir, die Angst als Ausdruck des Lebenswillens zu sehen – sie zeigt uns, wo etwas auf dem Spiel steht, was uns wirklich wichtig ist. Wenn wir bereit sind, ihr zuzuhören, verwandelt sie sich von einer Bedrohung in einen Hinweis. Erst durch dieses bewusste Hinsehen entsteht Freiheit – nicht die Freiheit von Angst, sondern die Freiheit, mit ihr zu leben.

Mut beginnt mit dem Hinsehen

Angst gehört zu unserem Menschsein. Sie zeigt, dass wir etwas zu verlieren haben – und dass wir leben. Der Weg zu einem gesunden Umgang mit ihr beginnt dort, wo wir sie anerkennen, anstatt sie zu bekämpfen.

Denn nur wer hinschaut, kann den Mut finden, weiterzugehen.