Wenn Angst auftaucht, geschieht etwas zutiefst Menschliches. Wir spüren Enge, Unruhe, Herzklopfen, vielleicht ein Ziehen im Bauch. Manchmal scheint es, als ob der Körper schneller reagiert, als der Kopf begreift, was los ist. Tatsächlich ist das genau so: Angst ist eine körperliche Reaktion, die aus den tiefsten Schichten unseres Nervensystems kommt. Sie will uns schützen, nicht lähmen – doch manchmal übernimmt sie die Regie.
Die Alarmkette im Gehirn
Im Gehirn spielt sich in solchen Momenten eine Art Alarmkette ab. Zuerst reagiert die Amygdala, ein kleiner, mandelförmiger Teil im limbischen System. Sie prüft blitzschnell, ob eine Situation gefährlich sein könnte. Wenn sie Gefahr wittert – real oder nur angenommen – schickt sie ein Signal an den Hypothalamus, der das vegetative Nervensystem aktiviert.
Von da an läuft alles automatisch: Das Herz schlägt schneller, die Muskeln spannen sich an, die Atmung beschleunigt sich, und der Körper bereitet sich auf Flucht oder Kampf vor. Es ist eine uralte, evolutionär sinnvolle Reaktion. Doch wenn die Angst zu stark wird oder zu häufig auftritt, bleibt der Körper in diesem Alarmzustand hängen – und das kostet Kraft. Viele meiner Klientinnen und Klienten beschreiben, dass sie sich in solchen Phasen wie „eingesperrt im eigenen Körper“ fühlen. Man will denken, handeln, frei entscheiden – aber etwas im Inneren hält einen fest.
Wenn Angst zur Daueranspannung wird
Diese innere Enge ist nicht eingebildet, sie ist die Folge der körperlichen Anspannung und der chemischen Veränderungen, die mit der Angst einhergehen. Das vegetative System steht unter Druck, und der Organismus versucht verzweifelt, das Gleichgewicht wiederzufinden.
Wie Angst unser Denken verändert
Gleichzeitig verändert sich unser Denken. Unter Angst schaltet das Gehirn in einen anderen Modus: Es sucht nicht mehr nach Lösungen, sondern nach Sicherheit. Der Verstand beginnt, alle möglichen Szenarien durchzuspielen, um Kontrolle zu gewinnen – und genau dadurch entstehen die bekannten Grübelschleifen. Der Gedanke will „sicher gehen“, dass nichts Schlimmes passiert, und kreist deshalb unaufhörlich um dieselbe Frage. Was, wenn doch? Was, wenn ich es nicht schaffe? Was, wenn etwas passiert? Diese Wiederholung vermittelt kurzfristig das Gefühl, etwas zu tun, aber sie führt in Wahrheit nur tiefer in die Angst hinein.
Ich kenne diese Mechanismen gut – nicht nur aus der Arbeit mit Klientinnen, sondern auch aus meinem eigenen Erleben. Angst nimmt einem die Freiheit, selbst zu bestimmen, wann man ruhig oder gelassen sein möchte. Sie schränkt den Handlungsspielraum ein, manchmal unmerklich, manchmal radikal.
Menschen beginnen, bestimmte Orte oder Situationen zu meiden, Gespräche zu vermeiden, Arzttermine zu verschieben oder ihre wahren Gefühle nicht zu zeigen. Aus der Angst vor Angst wird dann eine Strategie des Rückzugs. Das Fatale daran: Je mehr wir vermeiden, desto stärker verfestigt sich der Kreislauf. Das Gehirn lernt: „Diese Situation ist gefährlich – ich muss sie meiden.“ Und damit wird die Angst zu einem immer zuverlässigeren Begleiter.
Wege aus dem Daueralarm
Was im vegetativen System als kurzfristige Reaktion gedacht war, kann sich so in eine Daueranspannung verwandeln. Der Körper schüttet vermehrt Stresshormone aus, der Schlaf wird unruhiger, die Regeneration bleibt aus. Viele berichten von diffusen Schmerzen, Herzklopfen oder einem ständigen Gefühl, nicht wirklich entspannen zu können. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck eines überlasteten Systems, das zu lange auf Alarm stand.
Selbstmitgefühl statt Kontrolle
Therapeutisch gesehen ist der entscheidende Schritt, diesen Mechanismus zu verstehen – nicht um ihn intellektuell zu kontrollieren, sondern um ihn zu entmachten. Wenn man begreift, dass Angst kein Zeichen von persönlichem Versagen ist, sondern eine Überaktivierung eines sehr alten biologischen Systems, entsteht Mitgefühl für sich selbst. Dann wird es möglich, langsam wieder Vertrauen in den eigenen Körper aufzubauen.
Atmung, Erdung, bewusste Körperwahrnehmung – das sind Wege, die helfen, dem vegetativen System Sicherheit zurückzugeben.
Existenzanalytisch betrachtet zeigt Angst, dass uns etwas wesentlich ist. Sie ist die Kehrseite des Wertes, den wir einem Thema geben – Gesundheit, Beziehung, Leistung, Zukunft. Dort, wo Angst entsteht, liegt meist auch eine tiefe Bedeutung verborgen. Wenn wir uns ihr stellen, können wir sie nicht nur verstehen, sondern auch wandeln.
Dann wird Angst nicht mehr zur Mauer, sondern zur Tür: Sie führt uns dorthin, wo das Leben wirklich berührt. Angst ist also nicht nur eine Reaktion, sondern ein Ausdruck unserer Lebendigkeit.
Wenn wir lernen, sie zu beobachten, statt ihr zu gehorchen, beginnt ein Prozess der inneren Befreiung. Die Freiheit liegt nicht darin, keine Angst mehr zu haben, sondern darin, sie zu kennen – und trotzdem den eigenen Weg weiterzugehen.